Castor&&Pollux

GRUNDGEDANKEN
ZUM »LAB«

Boot der Unsterblichkeit

Der Frühling hat 2017 ein neues Projekt gestartet. Im Geheimen.

Mit der Hassliebe ist das so eine Sache. In jeder Gruppe, in jedem Freundeskreis, in jedem Team gibt es Quertreiber. Das ist ein gewisser Schlag von Mensch, der nervt, der anders denkt, der vor Aktionismus übersprudelt, der sich festbeißt. Kurzum: Quertreiber sind für alle anderen anstrengend, weil sie Gruppenarbeiten irritieren. Aber manchmal entzünden sie Ideen und bringen eine Alternative ins Rollen. Einen anderen Weg. Sie sind anstrengend und zeitgleich inspirierend.

Als Thorsten Schmidt sich 2017 entschieden hat, zehn Quertreiber für drei Tage im Heidelberger Wissenschaftszentrum wohnen zu lassen, damit sie ihre Stärken, das Andersdenken, gemeinsam und ungehemmt ausleben, war ihm mulmig. Aber er liebt das Risiko. Die Auserwählten sind jung, dafür relativ bekannt im Kulturbetrieb, sei es aufgrund von Auftritten im Tatort, bei der Ruhrtriennale, aus dem Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bei den Berliner Philharmonikern oder von der Deutschen Oper Berlin. Die zehn Freischaffenden aus den Bereichen Komposition, Regie, Videoperformance, Journalismus, Dramaturgie, Musikwissenschaft und Schauspielerei haben eines gemeinsam: Sie beäugen das derzeitige Treiben in der Musiklandschaft kritisch, wollen etwas ndern und sind von Visionen getrieben.

Ein Festival sollte der Ort sein, an dem das Neue eine Heimat hat.
Das »LAB« lebt das Neue als Prinzip.
Vom ersten Impuls der künstlerischen Akteure
bis zum Konzertabend.
So wird jede Musik zum kreativen Prozess von Anfang an.

Kritik am Heidelberger Frühling ist da vorprogrammiert. Nach der sehnt sich Schmidt bekanntlich. Aus einem Grund: Stillstand verhindern. Und das nicht aus Eigennutz, sondern für das Festival, für die Musik, für das Publikum. Er, der den »Frühling« samt Team beim Kuscheln in der Komfortzone nach einem erfolgreichen Jahr sofort wieder aus der Gemütlichkeit aufscheucht, wollte sich von außen inspirieren lassen. Das hat funktioniert. Seitdem wälzt er Bücher mit Theorien über »Scrum Teams«, »Design Thinking« und »Singularity«. Was diese anglizistischen Modewörter beinhalten, ist dabei nebensächlich. Wichtiger ist der Prozess, der Kreativität ermöglicht und in konkrete Projekte überführt.

Zwei Menschenhaufen liegen getrennt auf der Wiese, die das Wissenschaftszentrum umrahmt, basteln mit Lego, liefern sich Farbschlachten mit Kreisen und Buchstaben auf einer Pinnwand und diskutieren hitzig. Das Thema: Aufklärung. Jener Schwerpunkt, den sich das Festival für drei Jahre auf die Fahnen geschrieben hat. Was bedeutet Aufklärung für die Musik? Wie können Abende aussehen, die mit ästhetischen Mitteln »aufklären« wollen? Was ist ein aufgeklärtes Publikum? Wollen wir das überhaupt?

Ja. Wir wollen es. Und nach der ersten Wiesenarbeit ist klar: Wir wollen nicht nur darüber im luftleeren Raum debattieren, wir wollen es umsetzen. Sonst wäre es Selbstbeweihräucherung abseits des Betriebes, von der niemand etwas hat. Der Betrieb nicht, die Musik nicht, das Publikum nicht und die Vision schon gleich gar nicht. Irgendwann kommt Schmidt dann wieder dazu. Im Haus »Zukunftslabor« haben Hierarchien keinen Platz, was bekanntlich mit einem erfolgreichen Intendanten eines etablierten Festivals schwer vereinbar ist. Also muss er damit leben, nur dabei zu sein, wenn er eingeladen ist. Er kommt damit ganz gut zurecht.

Schmidt werden nach drei Tagen zwei Projekte vorgestellt und sein Gesicht hätte man fotografisch festhalten müssen. Im ersten Moment Ratlosigkeit. Pure Ratlosigkeit. Nach ein paar Minuten sitzt er dann auf Stuhlkante und ist hochgespannt und neugierig: »Was ist Singularity?« Ein Akademist versucht zu erläutern, dass es sich um eine wahnwitzige Theorie handelt, nach der wir 2048 die Körperlichkeit überwunden haben und unsere Gehirne in elektronische Gebilde übersetzt wurden – kurzum: Unsterblichkeit. Das, was nach Science-Fiction klingt, ist derzeit eines der Topthemen von Google und anderen Institutionen, die Milliarden in genau dieses Forschungsziel pumpen. Und darum soll es im Projekt »Castor&&Pollux« gehen. Ein musiktheatraler Abend in Heidelberg, im Jahr 2019, der Ausschnitte der gleichnamigen Oper von Jean-Philippe Rameau mit zeitgenössischen Kompositionen kombiniert.

Die Bühne wird anders aussehen. Das 4DSOUND-Raumklangsystem soll in die Alta Aula in Heidelberg einziehen. Diese Hightech-Konstruktion aus Lautsprechern und Mikrofonen ist ein neuartiges Raumklanginstrument. Dort bewegen sich alle Akteure, das barocke Vokal- und Instrumentalensemble und das Publikum, das von allen Seiten von der Musik umgeben ist. Das 4DSound-Instrument kann Klänge über Computertechnologien und Lautsprechern gezielt im Raum positionieren, wiederum andere Klänge und Bewegungen durch Mikrofone aufnehmen, die dann über algorithmischen und digitale Proteste transformiert und erneut beantwortet werden.

Wo ist da die Innovation? Die neue Musik wird nicht für herkömmliche Instrumente geschrieben, sondern für 4D-Raumklangkörper. Diese sind überall in der Alten Aula der Universität, die sich das Projektteam als Spielort wünscht, platziert, haben Mikrophone, die jedes Knarzen, jeden Ton, jedes Husten aufnehmen und es umprogrammieren und als Klang zurückspielen. So könnte der Klang in einem Raum verändert werden – per Knopfdruck wie eine Gummizelle klingen oder wie eine Kathedrale. Auch Science-Fiction? Nein. Dieses System gibt es, es wurde nur noch nicht für einen Konzertabend eingesetzt. In Heidelberg wäre das möglich.

Die Komplexität dieses Projektentwurfes, der mehrere Seiten lang ist, verwundert angesichts der kurzen Zeit, der neu zusammengewürfelten Arbeitsgruppe, die sich vorher nicht kannte, und der obskuren Arbeitsrituale mit Lego und Co. Thorsten Schmidts Drang zu Neuem und Risikofreude hat sich ausgezahlt. Wie konnte das funktionieren? Mit Mut zum Risiko, Vertrauen und Waghalsigkeit. Mit ähnlichen Methoden hatte Steve Jobs einst in seiner Elterngarage am Projekt »Apple« gebastelt, die »Google«-Arbeitshallen im Silicon Valley sind heute noch mit Korkenziehern, Klebstoff und Schlafmatratzen ausgestattet. Dort wird sofort haptisch nachgebaut, was man theoretisch erdenkt. Keine langen Wege. Schnelligkeit. Mut zum Risiko und zu ausgefallenen Ideen. Fast allen Apps oder digitalen Produkten liegt diese Arbeitsweise zugrunde. Die Grenzen von Freizeit und Arbeit verschwimmen in diesem Prinzip, Gemeinschaftsprojekte funktionieren nur, wenn jede noch so absurde Idee mit der Gruppe geteilt wird und ein »geht nicht« verboten ist. Am besten in einem familiären Rahmen.

Wir wollen von der Musik das Neue,
das Andere,
das Horizonterweiternde.
Eben nicht den Alltag.

Auch deshalb wollte das Zukunftslabor sich nochmals zusammensetzen. Es sind neue Verbindungen zwischen jungen Kulturschaffenden entstanden. Der Treffpunkt war im Juli 2017 Berlin. Das Zukunftslabor aus Heidelberg versammelt sich auf einem Hausboot einer Teilnehmerin. Gemeinsam wird über die Spree gesegelt. Parallel klettern alle auf dem Boot herum, steigen ein in Debatten über die Projekte und die Umsetzung, ziehen sich zurück, hören Musik, lesen, kommen mit neuen Ideen in die Gruppe und arbeiten so an ihren Projekten weiter.

Das, was der Heidelberger Frühling den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Zukunftslabors ermöglicht, wird ab 2019 auf die Bühne nach Heidelberg kommen. Was dort passiert, hätte man sicher auch »klassisch« in einem Büro erdenken können. Aber warum sollte nicht ein Festival ein Ort sein, an dem alternative Konzeptionswege ausprobiert werden? Wir wollen von der Musik das Neue, das Andere, das Horizonterweiternde. Eben nicht den Alltag. Fangen wir in einem kleinen Team an, mit Ideen zu jonglieren und diese umzusetzen. Dadurch entsteht für alle etwas Anderes. Für die Musik. Für den »Frühling«. Für das Publikum.

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