Mit der Aufführung aller Klavierkonzerte von Sergej Prokofjew an drei aufeinanderfolgenden Abenden zusammen mit dem Budapest Festival Orchestra unter Iván Fischer, wagt Pianist Igor Levit ein Ausnahmeprojekt in der Klassikwelt.
Im Interview mit Gesamtdramaturg Anselm Cybinski spricht der Pianist über das ambitionierte Vorhaben, mit dem ein Traum für ihn in Erfüllung geht, und über die einzigartige Kraft und Emotionalität von Prokofjews Musik, die mit ihren abrupten Kontrasten eine faszinierende Unberechenbarkeit in sich trägt. Darüber hinaus reflektiert er über den Umgang mit Zeit, Thema des Musikfestivals 2025, das unter dem Motto „Befreite Zeit“ steht.
AC: Mit welchem Vorgefühl denkst Du an das Prokofjew-Projekt des kommenden Frühjahrs?
IL: Ein Traum geht in Erfüllung! Ich wollte diese fünf Klavierkonzerte tatsächlich schon lange zyklisch aufführen. Sie jetzt mit Iván Fischer und seinem hoch dynamischen Budapest Festival Orchestra realisieren zu können, ist ein doppeltes Glück. Denn natürlich flößen einem diese Brocken erst einmal Respekt ein. Aber Iván ist so ein wunderbarer Kommunikator, ein Musiker, dessen Begeisterung alle einbezieht und packt und der sich auch wirklich Zeit zum Proben nimmt – das weckt große Vorfreude.
AC: Auf welche Erfahrungen mit den Werken kannst Du zurückgreifen?
IL: Das erste Konzert habe ich häufig gespielt, das zweite noch häufiger. Das dritte, das populärste von allen, habe ich erst einmal aufgeführt, da war ich 18 und habe es komplett in den Sand gesetzt – aber es hat irrsinnigen Spaß gemacht. Nummer 4 und 5, die ich sehr liebe, sind tatsächlich neu für mich. Das Vierte, das Konzert für die linke Hand allein, wird fast überhaupt nicht gespielt. Aber es gewinnt für mich immer mehr an Bedeutung; ich arbeite es gerade sehr intensiv und stelle dabei fest: Es ist wirklich eines der großartigsten Werke von Prokofjew, die ich kenne.
AC: Was hat es mit diesem Konzert auf sich?
IL: Das ist die berühmte Geschichte des Pianisten Paul Wittgenstein, Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte – und daraufhin bei einigen der damals bedeutendsten Komponisten Werke für die linke Hand in Auftrag gab. Maurice Ravel hat sein großartiges „Main-gauche“-Konzert in D-Dur für ihn komponiert, Richard Strauss, Britten, Korngold, Hindemith und einige
andere haben für ihn geschrieben. Und 1931 eben auch der damals 40-jährige Sergej Prokofjew. Wittgenstein hat das Stück aber nie gespielt. Ehrlich gesagt dachte ich zuerst auch: Na gut, ok, das muss ich dann noch dazulernen, es gehört halt zum Zyklus. Dabei ist es so poetisch, so tief, so zart!
AC: Von heute aus betrachtet: Ist Prokofjew vielleicht der etwas unterschätzte russische Meister des 20. Jahrhunderts? Auf der einen Seite Strawinsky mit seinen revolutionären frühen Balletten und der beständigen stilistischen Wandlung. Auf der anderen Seite Schostakowitsch, der Chronist der Grausamkeiten und Sehnsüchte seiner Epoche?
IL: Das glaube ich nicht. Ich habe noch niemanden getroffen, der Prokofjew unterschätzt hätte. Dabei ist er sicherlich eine sehr komplizierte Figur. Er verließ Russland 1918 gleich nach der Revolution und kehrte in den dreißiger Jahren in die stalinistische Sowjetunion zurück. Er schrieb dann auch politisch-agitatorische Auftragswerke – eins genialer als das andere und trotzdem mit einer sehr eigenartigen Botschaft. Aber die Fülle seiner Werke ist wirklich frappierend! Die Eleganz seines Schreibens, der Einfallsreichtum, diese Melodien, die ihm aus der Feder geflossen sind! Allenfalls Mendelssohn hat so viele tolle Melodien geschrieben wie Prokofjew. Prokofjew hat selbst gesagt, dass er in seiner Jugend viel aus russischen Volksliedern geschöpft habe.
AC: Erkennst Du diese Weisen wieder? Wecken sie Kindheitserinnerungen?
IL: ... der Anfang des dritten Klavierkonzerts natürlich, diese wunderbare Klarinettenmelodie. Ein komponiertes „Es war einmal“! Nein, in meinem Fall keine Kindheitsreminiszenzen. Aber natürlich erkenne ich das folkloristische Element. Ich sehe da Bilder aus alten russischen Märchen vor mir, mit Holzhütten und Feldern und Wiesen, mit Gesängen und Tanz.
AC: Was macht für Dich das Spezifikum des Prokofjew-Tons aus?
IL: Beim Wiederhören einiger der Orchesterwerke fällt mir die Prägnanz dieser Klangsprache auf, ihre Originalität und Schärfe, eigentlich auch im Lyrischen. Es gibt ein fantastisches Zitat von Galina Wischnewskaja, der großen Sopranistin und Ehefrau von Mstislaw Rostropowitsch. Beide waren mit Prokofjew ja eng befreundet. Wischnewskaja, so hat es mir mein früherer Professor Karlheinz Kämmerling erzählt, bezeichnete Prokofjews Musik als „schmelzendes Eis“: Allerhöchste Hitze trifft auf extreme Kälte. Und bei diesem Schmelzprozess wird eine irrsinnige Energie frei. Diesem Bild kann ich sehr viel abgewinnen. Die Kombination von Schärfe und Weichheit, von Kälte und Hitze, von Schönheit und nennen wir es mal Hässlichkeit, sie erfordert viel Mut. Das hat beinahe etwas Beethoven-haftes. Du bist leise, und sofort bist Du laut. Es sind diese abrupten Kontraste, die den Umgang mit seiner Musik so bereichernd machen, so unvorhersehbar. Und potenziell spielt man sich auch mal die Hände blutig – aber davon soll das Publikum lieber nichts mitbekommen.
AC: Wie stellst Du Dir den Pianisten Prokofjew vor?
IL: Es sind ja allerhand schöne Schilderungen über sein Spiel und seine Physis überliefert. Dieser Liftboy in den USA, der ihn am Arm fasst und ihn seiner stählernen Muskeln wegen für einen Boxer oder einen Athleten hält. Er muss diesen trockenen, perkussiven Anschlag gehabt haben und eine ungeheure Schnelligkeit. Es existieren ein paar faszinierende Videomitschnitte, im Internet leicht zu finden. Einer meiner liebsten ist der, in
dem Prokofjew etwas aus „Romeo und Julia“ spielt. Seine Behandlung des Instruments ist extrem direkt, sehr kurze Wege der Finger zu den Tasten. Er hat diese Vorliebe für wilde, asymmetrische Sprünge. Aber was für eine Poesie in Ton und Phrasierung! Ob er wirklich ein großer Pianist war – da bin ich nicht sicher. Svjatoslav Richter sprach von ihm als einem mitunter auch brutalen Menschen, der einen Mann einfach auch mal am Kragen packen und an die Wand drücken konnte.
AC: Kannst Du Dir das Revolutionäre an ihm vorstellen? Wie er mit 22 Jahren 1913 das zweite Klavierkonzert aufführt, das nicht nur dem Umfang nach wohl sein größtes ist. Prokofjew gab sich ja als Ultramodernist, und so wurde er auch wahrgenommen. Ein echter Bürgerschreck. Spürst Du das heute noch?
IL: Ja – weil diese Musik nach wie vor diese enorme Sprengkraft hat. Das Zweite ist ohne jeden Zweifel das wichtigste und irgendwie auch das gewaltigste unter seinen Konzerten. Die Entstehungsgeschichte ist im Grunde absurd: Sein bester Freund Maximilian Schmithof, der ihm brieflich mitteilt, dass er Selbstmord begangen habe und man bitte nicht nach den Gründen forschen solle. Im Zuge dessen komponiert er dieses Klavierkonzert, das unheimlich lyrisch beginnt, mit einer ergreifenden Melodie für Klavier solo. Der Satz geht in einen leicht sarkastischen Mittelteil über, aber was dann passiert, ist eine einzige gigantische, megalomane, hyperaufgedrehte Klavierkadenz, die wirklich ans Eingemachte geht, musikalisch wie pianistisch. Absurd schwer, notiert in drei Systemen. Wie eine Kathedrale, die sich da vor einem aufbaut. Und danach beginnen der Spaß und die Tücken eigentlich erst richtig, denn dieses Konzert hat keinen eigentlichen langsamen Satz. Schließlich kommt auch noch das Finale, das Dich manuell erneut an die Grenzen des Möglichen treibt. Der Mittelteil ist ein wirklich berührender Moment. Nach all den Tumulten habe ich immer das Gefühl, in dieser einen Solomelodie hält Die Eleganz seines Schreibens, der Einfallsreichtum, diese Melodien...
der Erzähler kurz Einkehr und sagt uns, wie es ihm selbst eigentlich geht. Am Ende dieses Konzerts bist Du wie ausgelaugt, weil es eine so gnadenlose, selbstzerstörerische Geschichte erzählt.
AC: Ein Wort zum ersten Konzert in Des-Dur…?
IL: Der Typ beendet sein Studium damit! Schreibt zum Studienende, mit 21 Jahren, einen solchen Superkracher! Wie breitbeinig musst Du eigentlich auftreten? Das Stück ist so genial, so voller Einfälle, so selbstbewusst, mitreißend und witzig. Wobei man ja bei den meisten Erstlingswerken diskutieren kann, ob sie wirklich so gelungen sind. Hier nicht. Das ist sofort ein Gipfelwerk. Das fünfte Konzert hast Du bisher noch gar nicht gespielt. Das ist ja wirklich eine zu Unrecht vernachlässigte Meisterleistung Prokofjews. Er hat das Konzert mit Wilhelm Furtwängler uraufgeführt, 1932 in Berlin. Es ist unfassbar unangenehm und schwer, auch fürs Orchester. Sehr originell auch in der formalen Anlage mit den fünf eng aufeinander bezogenen Sätzen. Ja, es gibt diese neu-sachliche Coolness, dafür aber ist das euphorisch über die Ziellinie stürmende Ende umso mitreißender. Da gerät wirklich alles aus den Fugen. Und das Larghetto, wieder einer dieser himmlischen langsamen Sätze. Wo holt der das nur her? Für mich ist das wirklich so ein Mendelssohn-Rätsel, diese Überfülle an Schönheit und Ideen.
AC: Prokofjews Temperament muss Deiner quecksilbrigen Veranlagung doch sehr entsprechen.
IL: Dieses sehr schnelle Wechseln der Perspektiven...... ich arbeite daran, wieder etwas wendiger und schneller zu werden. Aber ja, im Grunde liegt mir das!
AC: Auf das Gegenteil dessen zielt das Festivalmotto der „Befreiten Zeit“ ab: der Versuch, aus dem Hamsterrad der To-Dos und der „Fear of missing out“ auszubrechen und die Zeit wirklich mal wieder als „lange Weile“, als gedehnte Gegenwart zu erleben. Wie korrespondiert dies mit Deinen eigenen Sehnsüchten und Bedürfnissen?
IL: Bei Brahms 2024 hat das ja bereits eine Rolle gespielt. Einer der Hauptgründe, warum ich über all die Jahre so wenig Solomusik von ihm gespielt habe, war tatsächlich, dass ich nicht genügend Geduld dafür hatte. Irgendwann kam ein Moment, da ging es auf einmal, und umso glücklicher war ich. Diese Sehnsucht hat sich nur noch verstärkt. Wenn ich heute ein Werk höre wie Schuberts Streichquintett, ist das Erlebnis ein komplett anderes als vor drei, vier Jahren. Ich kann das hören und brauche keine Agenda, ich kann es einfach hören. Während ich es früher simultan analysierte oder an tausend andere Dinge dachte.
AC: Hat das mit Passivität zulassen zu tun? Geschehen lassen?
IL: Passivität nicht, geschehen lassen schon. Die Intensität und Geschwindigkeit, mit der Eindrücke und Informationen heute auf uns einprasseln, die macht einfach krank. Inzwischen versuche ich, Nachrichten wieder mehr so zu lesen, wie man das früher tat: einmal am Tag. Das Programm eines Musikfestivals wird die Welt gewiss nicht retten, aber einen Erlebnisraum zu schaffen, in dem Menschen im Bewusstsein dessen, wie kostbar Zeit ist, Konzerten begegnen, das halte ich für sehr wichtig. Einer meiner Klavierlehrer früher sagte mir oft: Du musst es nicht machen – denke nur daran! Der Akzent muss gar nicht aktiv gesetzt werden, das Bewusstsein seines Vorhandenseins genügt. Ein bisschen daran denken, wie kostbar so ein Leben, wie kostbar die Zeit ist und wie toxisch unsere Gegenwart in dieser Hinsicht geworden ist, das ist viel wert. Schuberts berühmte Längen sind da wirklich Geschenke. Geschenkte Zeit. Ich empfinde das immer stärker so, und ich hoffe, dass es Andere auch so empfinden.