Rund „4000 Wochen“ seien einem Menschen in den Industrienationen heute durchschnittlich beschert, rechnet der britische Journalist Oliver Burkeman in seinem gleichnamigen Bestseller vor. Die handliche Zahl soll deutlich machen, wie schnell das Erdendasein vorbeigeht — und wie wichtig es ist, die erschreckend kurze Lebensspanne sinnvoll zu nutzen. Burkemans Rat ist ebenso simpel wie schwierig umsetzbar: Nur wenn es gelingt, aus der Optimierungsfalle des „Nochmehr-in-noch-kürzerer-Zeit“ auszubrechen, haben wir überhaupt die Chance, die wirklich wichtigen Prioritäten zu setzen.
Weniger wollen, weniger tun. Weglassen, verzichten. Darauf kommt es an, schließlich liegen immense Aufgaben vor uns. Und das nicht nur im Privaten – Stichwort Klimawandel, Stichwort sozialer Zusammenhalt. „Befreite Zeit“ heißt das Thema des Heidelberger Frühling Musikfestivals, weil wir musikalische Ereignisse inszenieren wollen, die das Sich-Dehnen der Zeit besonders eindrücklich erlebbar machen. Und damit im Idealfall einen Vorgeschmack darauf geben, wie sich bewusstes Loslassen anfühlen könnte. Im Zentrum der Programme kann da nur einer stehen: Jener Komponist, bei dessen Nennung früher meist ein Goethe-Zitat nicht weit war: „Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß.“
Ein Klaviertrio von 45 Minuten Dauer? Ein sinfonisches Finale, das mehr als 1200 Takte umfasst? Franz Schuberts „himmlische Länge“, von der Robert Schumann so sehr schwärmte, als er 1839 in Wien die nachgelassene „große“ C-Dur-Sinfonie des älteren Kollegen entdeckt hatte, ist ein faszinierendes Phänomen. Das generöse Zeitmanagement des Wieners scheint dazu einzuladen, den Muskeltonus einmal zu lockern und Hast und Termindruck des Alltags abzustreifen. Zumindest kurzfristig verspricht es Befreiung von To-Do-Listen und „Fear-of-missing-out“-Unruhe. So weiträumig, so genießerisch und oft geradezu anti-dynamisch, wie Schubert größere Zeitstrecken entfaltet, stellt er den kompletten Gegensatz zu den Hörgewohnheiten unserer Mediengegenwart dar.
Von der aberwitzigen Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse und deren Auswirkungen auf die menschliche Psyche sprechen Geistes- und Sozialwissenschaftler seit langem. Erst seit wenigen Jahren wird allerdings deutlich, wie drastisch sich die Ereignisverdichtung auf die musikalische Kreativität auswirkt. Beim Streaming-Marktführer Spotify gilt ein Song nach 30 Sekunden als gehört. Wer früher wegklickt, generiert keine Einkünfte, zählt also gar nicht: Time is money. Vom allerersten Eindruck hängt alles ab; viraler Content à la TikTok ist ja auch nur maximal eine halbe Minute lang. So müssen die Titel sofort zur Sache kommen, sollen möglichst viele Reize in die ersten Sekunden packen, während das instrumentale Intro beinahe verschwindet. Überhaupt geht die Tendenz hin zu immer kürzeren Songs. Weil die häufiger gespielt werden – und in der Summe mehr einbringen. Und Schubert? Sind nicht einige seiner bekanntesten Lieder besonders kurz? „Die Forelle“? Keine zwei Minuten! „Der Musensohn“? Kaum länger. Selbst „An die Musik“, die durchaus gemächlich voranschreitende Hymne an die „holde Kunst“ der Töne, bringt es nicht einmal auf drei Minuten. Dabei erzählen einige der epochalen frühen Gesänge wie die Goethe-Vertonungen „Der Erlkönig“ oder „Gretchen am Spinnrade“ nicht nur ganze Geschichten, sie fassen auch ein Maximum an rapider Bewegung in sich. Taugt der vermeintlich so gemütliche Schubert also gar nicht zum Gewährsmann einer mal stockenden, mal stillstehenden, oft gar wie verräumlichten Zeit? Es ist etwas komplizierter. In seinem Freundeskreis und beinahe noch das gesamte 19. Jahrhundert über galt der Zeitgenosse der frühen Romantik als der „Liederfürst“: als Genie des Lyrischen, das Poesie intuitiv in Musik zu übersetzen versteht. Kaum wahrgenommen wurden dagegen zum Beispiel die Klaviersonaten, von denen immerhin ein Dutzend vollendeter Werke überliefert ist. Schubert wurde als Miniaturist des Biedermeier eingeordnet, als betont nahbarer Musiker des gesellig-unterhaltsamen Miteinanders. Deshalb entsprachen seine Hausmusik-tauglichen „Impromptus“ und „Moments musicaux“ viel mehr der Erwartung als die großen, zyklisch angelegten Werke.
Komponisten wie Schumann und Brahms setzten sich, obwohl kritisch eingestellt, zumindest mit den Instrumentalwerken Schuberts auseinander. Doch es sollte bis in die späten 1920er Jahre dauern, ehe Eduard Erdmann und Artur Schnabel die Sonaten auf dem Podium ernsthaft zur Diskussion stellten. Noch Alfred Brendel hielt es 1974 für angebracht, in einem profunden Aufsatz eine ganze Schutthalde von Vorurteilen gegenüber dem Sonatenkomponisten Schubert abzutragen. Nur wenige Jahre zuvor, Ende der sechziger Jahre, hatte der Komponist Dieter Schnebel seinen auf Proust anspielenden Schubert-Essay „Auf der Suche nach der befreiten Zeit“ veröffentlicht. Schnebel analysierte die komplexen Zeitstrukturierungen seines großen Vorgängers mit dem Blick des skeptisch gewordenen Avantgardisten. Hatten Karlheinz Stockhausen & Co die Dauern und Zeitverhältnisse ihrer Musik reihentechnisch exakt zu kontrollieren versucht, so konnte Schnebel bei Schubert nun staunend das konträre Verfahren beobachten: „Gänzlich naturhaft“ treibe die Zeit in manchen Passagen Schuberts dahin – was ihr Vergehen fast vergessen mache. Diese Art Zeit, so Schnebel, „wirkt so sehr als Entfaltung ihrer selbst, dass kompositorisches Wollen im vegetativen Wesen selbst aufgegangen zu sein scheint. Der Komponist gibt den Klang frei, überlässt ihn, allenfalls sporadisch und behutsam lenkend, seinen Triebkräften, und die also losgelassene Zeit beginnt zu verströmen.“
So leise, beinahe tastend Schnebel dies formuliert hatte, so pointiert brachte er – erkennbar über Bande spielend – seine Kritik an der kompositorischen Praxis der eigenen Zeit an. Einen Widerspruch gegen die mutwillige Unterdrückung klanglicher „Triebkräfte“, ein Nein zur Befolgung strikter Konstruktionsschemata, die in den ersten Nachkriegsjahren so komplex determinierte Kunstwerke hervorgebracht hatte. Die Hochphase des Serialismus, des numerisch gesteuerten Komponierens also, war da längst vorbei. Doch natürlich ging es um mehr als Musik. Schuberts „himmlische Länge“, sein Loslassen der Zeit, schien um 1970 – um es mit dem Soziologen Hartmut Rosa zu sagen – auf eine alternative, stärker der Natur verbundene „Weltbeziehung“ hinauszulaufen, auf ein bereitwilliges Akzeptieren dessen, was sich da draußen unserer willentlichen Steuerung entzieht.
Die Welt nicht mehr als Ressource, die es auszubeuten gilt, sondern als Wesenheit eigenen Rechts, der man zuhören möchte: Schnebels fünfzig Jahre alter Gedankengang ist überraschend aktuell. Eine ganze Reihe jener Schubert-Werke bzw. -Sätze, deren originelle Zeitgestaltung im Essay von Schnebel zur „befreiten Zeit“ untersucht werden, kommen in unseren Konzerten zu Gehör: Vom späten Es-Dur-Klaviertrio am 23. März bei der Schubert-Tag Matinee über das letzte Streichquartett in G-Dur am 26. März mit dem Signum Quartett, die posthum veröffentlichte Klaviersonate in B-Dur am 20. März mit Lukas Sternath oder das berühmte Streichquintett am 3. April mit dem Cuarteto Casals und Eckart Runge bis hin zum herrlichen Oktett am 6. April mit Veronika Eberle and friends und der erwähnten C-Dur-Sinfonie am 13. April im Festivalfinale.
Kein Zufall vielleicht, dass Schuberts Lebensgefühl im Wien der Metternich-Ära, den Jahren nach Napoleons Abdankung, in denen jede Hoffnung auf eine rasche Demokratisierung der deutschsprachigen Staaten im Keim erstickt wurde, gerade um 1970 so viel neue Resonanz fand. Eine Epoche war das, in der der Club of Rome nach Jahren des ungebremsten Fortschritts-Optimismus‘ plötzlich die „Grenzen des Wachstums“ ausmachte, in der atomare und ökologische Bedrohungen konkret wurden und sich in den westlichen Nationen erste Umrisse eines „nachhaltigen“ Denkens abzuzeichnen begannen. Der zweite Schwerpunkt-Komponist dieser Festivalausgabe hat genau in diesen Jahren zu seinen unverwechselbaren Verfahren prozesshafter Zeitgestaltung gefunden: Steve Reich, der inzwischen 88-jährige Amerikaner, der 1970 in Ghana traditionelle Trommelmusik studiert und wichtige Anregungen von der balinesischen Gamelan-Musik empfangen hatte und damit zum Mitbegründer der Minimal Music wurde. Zwei Hauptwerke Reichs sind, neben einigen kleineren Arbeiten, beim „Frühling“ zu erleben: Das epochale „Drumming“ von 1971 in einer Komplettaufführung mit dem Salzburger Schlagwerker Christoph Sietzen und seinem Ensemble im Rahmen einer „Minimal Night“ am 11. April sowie „Different Trains“ für Streichquartett und Zuspielband mit dem Londoner Manchester Collective am 28. März, in dem der Schrecken des Holocaust seinen musikalischen Niederschlag findet.
Wenig ist schöner als das wirklich vollständige Eintauchen in die Musik. Dies zu ermöglichen, dazu ist ein Festival schließlich da. Deshalb wird es Gesamtaufführungen gleich mehrerer Werkgruppen geben. Neben Sergej Prokofjews Klavierkonzerten sind da vor allem die Streichquintette von Wolfgang Amadeus Mozart zu nennen. Die sechs Quintette gehören zu seinen erlesensten Werken und sind als Zyklus doch so gut wie nie zu hören. Lassen Sie sich auf den „Frühling“ ein – drei Wochen von vielleicht viertausend Wochen. Eines ist ja sicher: Befreite Zeit ist Quality Time!
Programm-Essay von Anselm Cybinski, Gesamtdramaturg Heidelberger Frühling