Klingend, rauschend, behaucht – Helmut Lachenmann über seine Streichquartette

Komponieren bedeutet für mich jedes Mal, wenn schon nicht „ein Problem lösen“, so doch mich mit einem Trauma, angstvoll/lustvoll, auseinandersetzen und anhand solcher empfundener und angenommener kompositionstechnischer Herausforderungen eine klingende Situation verursachen, die mir selbst wenn nicht neu, so doch fremd ist, und in der ich mich verliere und so erst recht mich wiederfinde. Das klingt gewiss sehr privat, aber jenes „Problem“, jenes „Trauma“ verkörpert immer wieder auf andere Weise die kategorische Frage nach der Möglichkeit einer authentischen Musik in einer Situation, wo dieser Begriff kollektiv verwaltet scheint und durch seine Ubiquität und totale Verfügbarkeit in einer von „Musik“ (= auditiv inszenierter Magie für den Hausgebrauch) überschwemmten, saturierten und durch standardisierte Dienstleistung stumpf gewordenen Zivilisation fragwürdig geworden ist. Jene Problematik und jene Fragwürdigkeit ist eine unbewusst erkannte und verdrängte Realität, sie ist die Außenseite unserer, nicht weniger realen verdrängbaren aber auch erkennbaren inneren Sehnsucht nach befreiten Räumen für den wahrnehmenden Geist: nach „neuer“ Musik.

Mein drittes Streichquartett reagiert auf diese Aspekte sozusagen unter erschwerten Bedingungen, denn in zwei vorangegangenen Arbeiten für dieselbe gute, alte, ehrwürdige und traditionsbeladene Besetzung habe ich, gewiss unter anderen inneren Voraussetzungen und jedes Mal mit einem anderen Erfahrungshintergrund, mich diesem Bewältigungsspiel ausgesetzt. Der „Gran Torso“ aus dem Jahre 1971 und der „Reigen seliger Geister“ von 1989 markierten Wendepunkte in meiner kompositorischen Praxis. In „Gran Torso“ exemplifizierte ich einen – meinen – Materialbegriff, der, statt sich an intervallisch-rhythmisch-timbrischen Bedingungen zu orientieren, von der konkreten Energie bei der Klanghervorbringung ausging und den ich damals – provisorisch, aber bis heute unrevidiert – als „musique concrète instrumentale“ etikettierte, wobei ich aus dem Streichquartett einen sechzehnsaitigen Spielkörper machte, der – klingend, rauschend, behaucht, gepresst – mit seiner Körperlichkeit auf Traktierungen reagierte, in denen das traditionelle Spiel nur eine spezifische Variante des Umgangs mit dem Apparat darstellte. Mein zweites Quartett, der „Reigen“, 18 Jahre später, konnte nur dadurch darüber hinausgehen, dass es eine einzige der damals entwickelten Spielweise focussierte, nämlich diejenige des drucklosen Flautato-Spiels, bei welchem Töne eher als Schatten von Geräuschen (oder umgekehrt Geräusche bzw. tonloses Rauschen als Schatten von intervallisch präzise kontrollierten Tönen und Sequenzen) fungieren, eine Focussierung, das heißt Verfeinerung und vielfache Abwandlung, die ihrerseits sich ins diametral Entgegengesetzte, in Pizzicato-Landschaften, quasi rückwärts abgespielten Aufnahmen von abrupt crescendierenden Bogenschwüngen, transfomierte, wobei sich tatsächlich eine andere bzw. anders gepolte Klang- und Ausdruckswelt auftat. Mit diesen beiden Werken meinte ich das Trauma Streichquartett bewältigt zu haben, zumal ich ziemlich genau auf halbem Wege zwischen diesen beiden Arbeiten, nämlich 1980 in meiner „Tanzsuite mit Deutschlandlied“, einer Art Konzert für Streichquartett und Orchester, mich mit dieser Formation ebenfalls beschäftigt hatte.

Und jetzt? Was macht Robinson Crusoe, wenn er seine (seine?) Insel erschlossen glaubt? Wird er erneut sesshaft, kehrt im selbst eingerichteten Ambiente zur bürgerlich-behaglichen Lebensweise zurück? Sollte er das Errichtete heroisch wieder niederreißen, sollte er sein Nest verlassen? Was macht der Wegsuchende, wenn er bereits sich Wege durchs Unwegsame gebahnt hat?? Er stellt sich bloß und schreibt sein „Drittes Streichquartett“ ... Denn der selbstgefällige Schein trügt: nichts ist erschlossen ... „Wege“ in der Kunst führen nirgendwo hin und schon gar nicht zum „Ziel“. Denn dieses ist nirgends anderswo als hier – wo das Vertraute nochmals fremd wird, wenn der kreative Wille sich daran reibt – und wir sind blind und taub.

Das Werk ist den Musikern/Freunden des Arditti-Quartetts gewidmet: Graeme Jennings, Rohan de Saram, Irvine Arditti, DOv Scheindlin.

(Helmut Lachenmann (2010), Werkkommentar zu Streichquartett Nr. 3 „Grido“, erschienen in der Werk-Partitur bei Breitkopf & Härtel)

Im Rahmen des Heidelberger Frühling Streichquartettfests 2025 ist das 1. Sreichquartett „Gran Torso“ am Freitagvormittag, 24. 1. , das 2. Streichquartett „Reigen seliger Geister“  am Freitagnachmittag, 24.1. und das 3. Streichquartett „Grido“ am Samstagvormittag, 25. 1. zu erleben.


Der 1935 in Stuttgart geborene Helmut Lachenmann zählt zu den renommiertesten deutschen Komponisten zeitgenössischer Musik. Er studierte Klavier, Musiktheorie und Kontrapunkt in Stuttgart sowie Komposition bei Luigi Nono in Venedig. Erste öffentliche Aufführungen seiner Werke fanden 1962 bei der Biennale Venedig und den Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt statt. Er unterrichtete Komposition in Hannover (1976–1981) und Stuttgart (1981–1999) und leitete zahlreiche Meisterkurse im In- und Ausland. Seine Werke werden von international renommierten Interpret*innen und Orchestern in aller Welt aufgeführt. Helmut Lachenmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Deutschen Musikautorenpreis der GEMA für sein Lebenswerk (2015).

Er hat drei Streichquartette geschrieben:
Streichquartett Nr. 1 „Gran Torso“ (1971)
Streichquartett Nr. 2 „Reigen seliger Geister“ (1989)
Streichquartett Nr. 3 „Grido“ (2001)