Castor && Pollux
Castor ist als Sterblicher ans endliche Diesseits gebunden, Pollux in die unsterbliche Ewigkeit verbannt. Aber Castor und Pollux – die Brüder – lieben sich und wollen für immer beieinander sein. Daran ist nichts komisch, unverständlich, oder falsch. Komisch und unverständlich ist unsere Unfähigkeit, diesen Wunsch zu vertreten. Wo hat die Aufklärung ihre Träume liegen lassen? Zwischen Mythos und Utopie wandern wir wie Castor und Pollux zwischen Olymp und Hades. Utopisch ist 4-D-Supercomputer-Sound. Utopisch ist Rameaus Musik. Und am Schluss erscheint doch der Deus ex Machina: wir bleiben für immer beieinander.
Zwei Mythen bilden den Ausgangspunkt des Musiktheaters. Der Mythos von Castor und Pollux spricht über mehrere tausend Jahre hinweg aus der Vergangenheit zu uns. Die Geschichte der Brüder Castor und Pollux formuliert die Utopie von Bruderliebe und Unsterblichkeit: die Brüder lieben sich, werden durch den Tod des einen, in den der andere aufgrund seiner göttlichen Abstammung nicht nachfolgen kann, getrennt. In Rameaus Tragédie en musique „Castor et Pollux“, die musikalisch und szenisch einen wichtigen Teil der Arbeit ausmacht, greift Zeus selbst ein und gewährt beiden Eingang in das Reich der Unsterblichkeit. Deus ex Machina.
Der andere Mythos ist eine straightforward-Techno-Utopie: durch Künstliche Intelligenz, Supercomputer und Cyborg-Technik könnte die Mensch-Maschine ihre körperlichen und geistigen Grenzen überwinden und in einem Zustand, der als Singularity bezeichnet wird, in die ewige Einheit übergehen. Weniger mythisch, dafür aber mit führenden Wissenschaftler*innen unterschiedlichster Disziplinen beginnt 2018 das Europäische Human Brain Project in Heidelberg die Arbeit an der technischen Reproduktion von Abläufen im Gehirn. Ist die Frage nach Mensch und Maschine so gestellt, taucht die Unsterblichkeit nicht nur in wissenschaftlichen Abhandlungen auf, sondern auch mit Milliardenbeträgen in den Budgets führender Technologiekonzerne. Musikalisch und szenisch wird diese Utopie, die nicht aus ferner Vergangenheit, sondern aus ferner Zukunft zu uns spricht, mit dem technisch superpotenten 4D-Soundsystem verarbeitet. Die aus zahllosen Mikrofonen und Lautsprechern gebaute Anlage ist frei begehbar und bietet nicht nur die Möglichkeit Klänge abzugeben, sondern sie auch aufzunehmen und über algorithmische digitale Prozesse zu beantworten und zu steuern. Das System sprengt damit die Grenzen von Musik, Bühne und Publikum. Es gibt kein Ich mehr, womöglich aber eine Zärtlichkeit. Es gibt keinen Tod mehr, womöglich aber eine Ewigkeit. Es gibt kein Leid mehr, womöglich aber einen Gesang. Deus ex Machina.
Die Berge Castor und Pollux in den Alpen, Kanton Wallis, Schweiz.