Brahms und die Unordnung der Lieder

Brahms’ Lieder können süchtig machen. Immer wieder sind da Momente, in denen sich etwas vollkommen Unerwartetes ereignet. Was macht Brahms Liedschaffen aus und was unterscheidet ihn von bedeutenden Zeitgenossen wie Robert Schumann und Hugo Wolf?

Das Heidelberger Frühling Liedfestival taucht vom 8. bis 16. Juni in das Liedschaffen von Johannes Brahms ein. Das Motto „Brahms und die Unordnung der Lieder“ bezieht sich dabei auf die Tendenz des Komponisten, nicht etwa größere Liederzyklen zusammenzustellen, sondern seine Lieder in kleinen „Bouquets“ – wie er sie selbst nannte – zu sammeln, die sich aus Vertonungen von Dichtern unterschiedlicher Epochen und ohne inhaltliche Zusammenhänge zusammensetzen konnten. Auch Brahms' Verehrung des Volksliedes wird in mehreren Konzerten hörbar.

Brahms hat insgesamt etwa 280 Gesänge für Solostimme hinterlassen, in etwa viele wie seine weit jünger verstorbenen Kollegen Robert Schumann und Hugo Wolf. Im Gegensatz zu ihnen hat sich Brahms jedoch nicht nur in bestimmten Phasen seines Lebens mit dem Lied beschäftigt, sondern kontinuierlich und gleichmäßig während seiner gesamten künstlerischen Karriere. Nach Ansicht des in Basel lehrenden Musikwissenschaftlers Matthias Schmidt können Brahms' Lieder als Schlüssel für das Verständnis seiner Kompositionen gesehen werden. Sie sind einerseits alltägliche Fingerübungen, bieten aber auch Raum für Experimente und ermöglichen es ihm, musikalische Gedanken auszudrücken.

Brahms hatte einen ausgeprägten literarischen Geschmack, aber er hat die „großen“ Dichter größtenteils ausgelassen. Er wollte die Worte durch die Musik verbessern und zu ihrer ästhetischen Steigerung beitragen. Wenn ihn ein Gedicht ansprach, trug er es lange in seinem Kopf herum und arbeitete es erst später musikalisch aus.

Er stellte seine Lieder nicht in großen Zyklen zusammen, sondern in kleinen „Bouquets“ , wie er es nannte. Diese Bouquets bestanden aus Vertonungen von Dichtern verschiedener Epochen und hatten keine inhaltlichen Zusammenhänge. Dennoch gab es eine gewisse poetische Anordnung innerhalb der kleinen Gruppen. Brahms schrieb in einem Brief an seinen Verleger Rieter-Biedermann: „Die Hefte sind unterschiedlich umfangreich, aber ich möchte die Ordnung so lassen, wie Sie es Unordnung nennen würden.“ Also eine geordnete Unordnung?

Vielleicht liegt es daran, dass Brahms auch in seinen Liedern vom instrumentalen Musikstil aus dachte. Über 60 verschiedene Poeten haben Brahms zur Vertonung inspiriert, die meisten davon sind heute kaum noch bekannt. Der am häufigsten vertonte Lyriker war Georg Friedrich Daumer, ein Religionsphilosoph und Übersetzer orientalischer Gedichte. Brahms hat die Texte genommen, die ihn inspiriert haben, und sie nach seinen eigenen musikalischen Gesetzen bearbeitet.

Brahms verehrte das Volkslied, obwohl er sich nicht für das interessierte, was tatsächlich vom Volk stammte, sondern für den idealisierten Volkston, der frei von Vulgarität war. Er glättete und verfälschte die übernommenen Volkslieder, um sie seinem eigenen Stil anzupassen. Manche seiner eigenen Kompositionen wurden sogar als Volkslieder angesehen, was Brahms sicherlich gefreut haben muss. Er hatte es geschafft, die künstlerische Künstlichkeit komplett in Einfachheit und Natürlichkeit aufgehen zu lassen.

Im Frühjahr 1894 plante Brahms bereits, sein Werk mit der Nr. 49, dem letzten Lied aus der Sammlung „Neunundvierzig Deutsche Volkslieder“, zu beschließen. Doch es sollte anders kommen. 1896 machte sich Brahms noch einmal an die Arbeit. Die Vollendung der „Vier ernsten Gesänge“ , die sich mit dem eigenen Tod auseinandersetzen, stand noch aus. Es gab keinen Masterplan oder das Streben nach Vollständigkeit - das Leben selbst bestimmte die innere Logik von Brahms' Liedern.


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