Weiter Atem, offener Raum – Igor Levit über Brahms

Igor Levits Beziehung zum Komponisten Johannes Brahms ist im Laufe seines Lebens immer inniger geworden. Im Gespräch mit Anselm Cybinski, Gesamtdramaturg beim Heidelberger Frühling, schwärmt er von einer Musik, die Räume öffnet, umarmt und nie enden soll.

Außerdem erzählt der Pianist und Co-Künstlerische Leiter des Heidelberger Frühling Musikfestivals von seiner Vorfreude auf die  Zusammenarbeit mit den jungen Fellows und seinen Künstler-Kolleg*innen, mit denen er im Heidelberger Frühling Musikfestival 2024 Schlüsselwerke aus Brahms' kammermusikalischem Schaffen erarbeitet hat.

Anselm Cybinski: Was löst Brahms’ Musik konkret bei Dir aus?

Igor Levit: Ich habe es kürzlich auf der Bühne im Konzert sehr deutlich gespürt: Es hat ein starkes Trostelement, diese Stücke zu spielen, und zwar unabhängig davon, ob man nun die bewegten, aufgewühlten Sätze nimmt wie op. 116 Nr. 1 oder Nr. 7 oder die ruhigeren. Diese Musik hat etwas so Haltendes und Umarmendes! Keine Beethoven-Sonate gibt mir das, die gibt mir etwas Anderes. Ich wünsche mir bei jedem Stück: „Bitte hör nie auf!“ Es vermittelt mir das Gefühl eines sicheren Hafens, das zu spielen. Und auch zu hören. Das ist für mich persönlich der sehr organische nächste Entwicklungsschritt hin zu einem selbstreflexiven Innehalten.

Anselm Cybinski: Ist Brahms wirklich so viel riskanter als andere Komponisten?

Igor Levit: Vielleicht. Aber wenn ich mir vorstelle, es werden mir Wochen geschenkt, in denen ich die Möglichkeit habe, mich ganz, ganz stark auf Johannes Brahms’ Musik einzulassen, dann erfüllt mich das mit einem unglaublichen Glücksgefühl. Das sind Programme voll von so viel Gefühl, von Trost und Zärtlichkeit, unglaublich viel Liebe, Melancholie. Zutiefst menschlich. Und es ist kein Stresserlebnis. Mich stresst Beethoven zum Beispiel häufig enorm. Diese Geschwindigkeit, die Reaktionsschnelligkeit, natürlich schafft das Druck. Das habe ich bei Brahms nicht, sondern ich bin wirklich berührt, bewegt. Im Glücklichen, im Traurigen, im Melancholischen. Deshalb ist das ein enormes Geschenk. Auch für die Hörenden ist das erlebbar. Wenn Du in verschiedensten Genres Brahms hören kannst, gehst Du sehr viel glücklicher raus als Du reingekommen bist.

Anselm Cybinski: Wie steht es überhaupt um das Gefühl bei Brahms? Legt er eine relativ direkte, unmittelbare Emotionalität in seine Musik?

Igor Levit: Ja. Die Art, wie er schreibt, gibt allen Emotionen viel Zeit und Raum. Es ist nicht dieses Beethoven’sche Rasen. Der Atem ist weit, es ist alles großräumiger. Das Metrum ist im Grunde langsam, es gewährt auch in den virtuosesten Dingen ein Ein- und Ausatmen. Das vertieft das Erlebnis enorm. Beethoven ist keineswegs weniger emotional, aber Du bist da schon sehr häufig in Schnappatmung.

Anselm Cybinski: Wie empfindest Du den Klang bei Brahms?

Igor Levit: Was ich wunderbar finde und was mir sehr entspricht, ist: Brahms ist sehr Bass-orientiert, er hat die Tendenz, die Welle gleichsam von unten nach oben aufzubauen. Ich liebe es ja, vom Bass her zu denken und weniger von der Melodie. Das ist eine dunkle Klanglichkeit, aber nicht schwarz. Natürliches Licht – das tut den Augen gut, und es tut den Ohren gut. Selbst in den dramatischsten Stellen ist es noch irgendwie harmonisierend.(...)

Anselm Cybinski: Das A-Dur-Quartett wirst Du zusammen mit den exzellenten jungen Fellows einstudieren und aufführen. Worauf freust Du Dich besonders bei Deinen Konzerten?

Igor Levit: Es ist ein bisschen das, was ich früher in den Akademien so genossen habe. Dass ich den „Frühling“ endlich wieder nicht nur erleben darf als Kurator und Solist, sondern als Urmusiker. Die Urform: Man trifft sich mit dem Kaffeebecher in Raum soundso. Man begrüßt sich, fängt an zu proben, geht dann gemeinsam Mittagessen, anschließend zurück zur Probe. Es kommt im besten Sinne ein bisschen die Studentenzeit wieder. Ich bin hier nicht der Chef vom Dienst, ich schreibe nicht vor, was jemand zu tun hat, sondern es ist eine Arbeit auf Augenhöhe. Das, was es mal in der Kammermusikakademie gab, kehrt jetzt zurück. Und wenn das mit Brahms passiert, macht es mich umso fröhlicher. Dass ich mit meinem Schüler Lukas Sternath, der schon jetzt, mit 21 Jahren, eine absolut außergewöhnliche pianistische Erscheinung ist, ein gemeinsames Programm gestalten kann, macht mich sehr glücklich. Die Wiederbegegnung mit Renaud Capuçon, mit dem ich mich so gut verstehe, in allen drei Violinsonaten ist ja sowieso eine einzige Freude.

Anselm Cybinski: In Deinem Soloprogramm konzentrierst Du Dich auf die späten Stücke opp. 116 bis 119. Ist es nicht interessant, dass Du, obwohl Du vom Typus her genau auf dieser Schiene des deutschen Repertoires liegst, erst jetzt richtig loslegst mit Brahms?

Igor Levit: Ich habe es ja immer wieder probiert. Aber ehrlicherweise ging es mir oft so: Ich setze mich ans Klavier – ich weiß das noch genau von vor ein paar Jahren – ich will so gern, und es fehlt mir an Geduld. Mir waren diese Stücke zu langsam. Zu ereignisarm. Musik für reifere Menschen also? Vielleicht ja. Ich habe das Gefühl, ich kann ruhiger atmen. Und plötzlich fühlt es sich richtig an, Opus 116 Nr. 4 zu spielen, dieses wunderbare E-Dur-Intermezzo. Was unmöglich gewesen wäre noch vor sieben Jahren. Einfach geschehen lassen. Einfach mal lassen. Es gibt reife Menschen mit Anfang 20, und ich bin eben jetzt an dem Punkt. Dabei gibt es noch immer Stücke von Brahms, vor denen ich einen Heidenrespekt habe. An oberster Stelle steht Opus 119 Nr. 1, das berühmte h-Moll-Intermezzo. Dieses „Melancholie aus jeder Note saugen, mit Wollust und Behagen“, wovon Brahms selbst mit Blick auf dieses Adagio spricht, das ist sehr, sehr schwer. Aber für mich ist es jetzt so weit. Das macht mich sehr froh.