Orte, an denen die Wege zusammenfinden
Wo verschiedene Ethnien, Religionen, Milieus und Ästhetiken aufeinandertreffen, entstehen Schmelztiegel der Musik. Ohne erkennbare Ordnung vermengen sich an diesen Melting Pots Einflüsse und Inspirationen zu etwas Neuem, völlig Unerwartetem.
Wien, über Jahrhunderte der Regierungssitz eines Vielvölkerstaats, gilt nicht umsonst als Musikstadt par excellence: Keine andere Kunst profitiert direkter als die Tonkunst vom Zusammentreffen verschiedener Sprachen, Tonfälle, Temperamente und Mentalitäten. Und natürlich von der steten Durchmischung der Klassen und Milieus, des Populären und des Verfeinerten – auf dem kurzen Weg von der Vorstadt zum kaiserlichen Hof und zurück. Der Zustrom der Tschechen, Ungarn, Deutschen, Italiener, Polen und Juden riss in Wien niemals ab. Und je dichter sich das Gebrodel im Schmelztiegel zusammenbraute, je vielfältiger die Interaktion zwischen den kulturellen Einflüssen sich gestaltete, desto attraktiver wurde die Stadt für all jene, die von außen herbeiströmten. Eine erhellende Zusammenschau Wiener Komponierens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der zweiten musikalischen Glanzperiode der Stadt nach der Klassik, präsentierte das belgische Ensemble Het Collectief, das Schlüsselwerke von Alexander von Zemlinsky, Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern einander gegenüberstellte.
Gleich zwei Festivalprogramme statteten Paris, der anderen Musikmetropole des Fin de Siècle, einen Besuch ab. Das Vocalensemble Rastatt unter Leitung von Holger Speck und die Pianistin Anne le Bozec setzten neben Werken von Gabriel Fauré und Camille Saint-Saëns auch selten zu hörende Komponistinnen wie Lili Boulanger oder Cécile Cheminade aufs Programm. Zu entdecken war überdies die gebürtige Rastätterin Luise Adolpha le Beau (1850–1927), eine der wenigen Frauen ihrer Zeit, die darauf bestand, keine Miniaturen zu komponieren, wie man es ihren Geschlechtsgenossinnen damals riet, sondern die repräsentativen Formate zu bedienen. Der Bariton Benjamin Appl und Martynas Levickis am Akkordeon intensivierten die Schmelzvorgänge in ihrem Liederabend, denn sie demonstrierten, auf welche Weise Komponisten und Dichter aus gleich mehreren Weltstädten neue Legierungen von Exotischem, Unterhaltsamem und subtiler Kunst erproben.
Auch die erstaunliche Kreativität des englischen Musiklebens unserer Tage ist zumindest in Teilen Resultat beständiger Einwanderung. Sowohl die ehemalige Textilmetropole Manchester, eines der vitalsten kulturellen Zentren Europas heute, als auch die Hauptstadt London nahmen viele der von den Nazis vertriebenen Künstlerinnen und Künstler auf und erlaubten es ihnen, ihre Ideen mithilfe starker Institutionen wie der BBC weiterzuentwickeln. Der Zustrom von Menschen aus den ehemaligen Kolonien des Commonwealth hat inzwischen eine ausgesprochen diverse Musikszene hervorgebracht. Mit dem Aurora Orchestra und dem Manchester Collective waren gleich zwei besonders innovative Gruppen beim Heidelberger Frühling Musikfestival 2023 zu Gast. Höchste künstlerische Qualität und ein betont kommunikatives Konzept gingen bei beiden stets Hand in Hand.
Doch nicht nur in den großen Städten erweist sich die Durchmischung kultureller Einflüsse als produktiv: Ibrahim Keivo, „der Troubadour des multikulturellen Syriens“, der mit der NDR Bigband nach Heidelberg kam, ist Sohn einer armenischen Familie, die den Völkermord von 1915 überlebt hat; seine Musik verband syrische, kurdische und armenische Elemente. Ganz der tausendjährigen armenischen Musiktradition gewidmet war der Abend, den die Cellistin Astrig Siranossian zusammengestellt hatte. Vielfalt der Kulturen auch hier: Neben einem Klaviertrio war der ergreifende Ton des Duduk, des armenischen Holzblasinstruments zu hören, sowie die Kanun, eine orientalische Zither.