Mezzosopranistin Ema Nikolovska ist dem Heidelberger Frühling Liedzentrum seit vielen Jahren verbunden. Sie ist Absolventin der Heidelberger Frühling Liedakademie unter Thomas Hampson und hat im Rahmen des ganzjährigen, hochkarätigen Förderprogramms als Protagonistin im Kurzfilmprojekt „Lied me!“ mitgewirkt.
Nun kehrte die in Berlin lebende Sängerin mit einem selbst kuratierten Lied-Programm nach Heidelberg zum Liedfestival zurück, das auf Virginia Woolfs Roman „Orlando“ basierte und das nicht-binäre Konzept des Lebens thematisierte. Im Interview erzählt sie , warum sie das Genre des Liedes fasziniert und wie wichtig es ist, mit originellen Lied-Programmen neues Publikum zu erreichen.
AC: Du bist sehr gefragt als Opern- und Oratoriensängerin. Dennoch spielt das Lied nach wie vor eine zentrale Rolle in Deiner Arbeit. Was fasziniert Dich so sehr an dem Genre?
EN: Mich reizt die leichte Transportierbarkeit. Ich kann das Lied an unterschiedlichste Orte bringen; zumeist sind ja lediglich Stimme und ein Begleitinstrument beteiligt. Weil das Lied so modellierbar ist, lässt es sich in allen denkbaren Settings aufführen. Dazu hat es viel Intimität, genau wie Kammermusik. Ich sehe Lieder ja eigentlich als Teil der Kammermusik …
AC: Du bist von Hause aus Geigerin …
EN: Ja, richtig. Meine stimmliche Ausbildung begann dann aber mit dem Lied, nicht mit dem Operngesang. Das Lied ist die Grundlage meiner Technik und meiner Vorstellung. Lieder verstand ich anfangs wie Violinsonaten mit Text. Die Auseinandersetzung mit der Poesie erschien mir als etwas sehr Geheimnisvolles, denn die Worte fügten meiner Vorstellung eine ganz neue Dimension hinzu. Und natürlich dauern Lieder nicht lange! Es gibt da so viele Fragen und Themen, die ich in einem Liedprogramm miteinander in Beziehung setzen kann. In einer Zeitspanne von 70 bis 80 Minuten eröffnet sich die Chance, mit unzähligen Klangwelten, Sprachen und auch Ästhetiken zu arbeiten. Bei einer Abfolge vieler kleiner Einheiten spielt das Kuratorische eine wichtige Rolle. All das bietet sehr interessante Potenziale für die Zukunft des Konzerts als Format und für die Erschließung neuer Publikumskreise. Originelle Programme erleichtern die Verbreitung neuer Musik und die Verknüpfung des klassischen Kunstliedes mit anderen Musikgenres und deren Zuhörerschaft.
AC: Bekommt das Lied damit eine neue kulturelle Bedeutung?
EN: Ganz sicher. Das Genre erlaubt uns, verschiedenste Einflüsse aufzunehmen und zahlreiche Disziplinen ins Konzerterlebnis zu integrieren. Das wiederum kann dem Publikum ein stärkeres Gefühl des Willkommenseins vermitteln, vor allem, wenn wir spielerische und offene, weniger didaktische Angebote machen. Ein intimer Raum der Spiritualität kann da entstehen, in dem wir aufmerksam und achtsam zusammen sein können – inmitten einer Welt, die solche Impulse sonst weniger ermutigt. Das kann in einem Hospiz sein, in einer Bibliothek, in einem Café oder an ganz verschiedenen Orten, die wir noch gar nicht erkundet haben.
AC: Bedeutet die Kürze von Liedern in solchen Zusammenstellungen nicht auch, dass eine enorme geistige Präsenz erforderlich ist, um all die Bedeutungsebenen von Wort, Musik, Form, Thema aufzunehmen?
EN: Ja, sicherlich. Wobei der Kontext darüber bestimmt, welche Beziehung die Anwesenden zur Musik entwickeln. Das intellektuelle Begreifen muss dabei keine so große Rolle spielen, die Menschen sollen kein Geheimnis entschlüsseln. Wir laden unser Publikum vielmehr dazu ein, selbst zu entscheiden, wie es die Aufführung erfahren möchte. Es gibt nicht die eine richtige Art, ein Konzert zu hören. Entscheidend ist, die Leute zur bewussten Wahrnehmung zu ermutigen. Im Idealfall finden sie zu echter Präsenz, ohne den Abgleich mit ihrer gelernten Vorstellung von der Sache oder ihren Vorurteilen vornehmen zu müssen.
AC: Wie entstehen Deine Programme? Gibt es da Werke, die Du singen willst, um die herum sich dann Kreise bilden? Oder sind es grundsätzliche Gedanken, die sich langsam im Repertoire manifestieren?
EN: Meine Programme sind in gewisser Weise Schnappschüsse meiner Lebenssituation, ob ich mir dessen nun bewusst bin oder nicht. Wenn ich mich frage, was zu einem bestimmten Moment gesagt werden müsste, fließen sehr unterschiedliche Ideen mit ein. Manchmal ist es eine historische oder literarische Figur, manchmal ist es ein Konzept. Ende 2019 erzählte mir Sean Shibe von Detlev Glanerts „Orlando-Liedern“. Schon beim ersten gemeinsamen Lesen stellten wir fest, dass sie uns reizen würden. Wir lasen dann beide Virginia Woolfs Roman „Orlando“ von 1928. Bei diesem Programm kam die Anregung tatsächlich von zwei Seiten zugleich: von einer Komposition und einem Thema bzw. Stoff. Woolfs „Orlando“, eine Gestalt, die mehrere Jahrhunderte durchlebt, einmal als Mann, dann als Frau, erregt zurzeit vor allem unter Gender-Aspekten wieder viel Aufmerksamkeit. Tatsächlich haben wir uns dem Thema weniger von dieser Seite aus genähert, obwohl das auch extrem interessant wäre. Gegen Ende des Romans findet sich eine Episode, in der Orlando als 36-jährige Frau in den 1920ern mit dem Cabrio durch London fährt. Sie fühlt sich verwirrt, die Welt erscheint plötzlich so verändert. Irgendwann bleibt die Stadt zurück und sie kommt aufs Land hinaus. Orlando ruft sich selbst und fragt sich zugleich, welches ihrer Ichs nun erscheinen werde. Wir haben 2052 Ichs, sagt sie sich, und wir werden nie wissen, welches davon erscheinen wird, da sie alle in unterschiedlichen Zeiten und Situationen auftreten. Was ich so beeindruckend finde, ist dieses nicht-binäre Konzept nicht allein im Bezug aufs Geschlecht, sondern auf das Leben überhaupt. Orlando, er und sie, gehen ohne Furcht durchs Leben und saugen alle Erfahrungen in sich auf. Wenn wir eine solche Großzügigkeit uns selbst gegenüber zulassen können, wenn wir uns die Verunsicherung zugestehen, dass wir aus so vielen verschiedenen Komponenten gemacht sind – dann können wir diese Offenheit vielleicht auch auf andere ausdehnen …
Das Gespräch führte Anselm Cybinski, Gesamtdramaturg beim Heidelberger Frühling.