Das Lied ist immer präsent - Jörg Widmann im Gespräch

Am Wochenende des 17. und 18. Juni 2023, unmittelbar vor seinem 50. Geburtstag am 19. Juni, widmete das Liedfestival dem international viel beschäftigten Komponisten, Klarinettisten und Dirigenten einen besonderen Schwerpunkt.

Anselm Cybinski, Dramaturg des Heidelberger Frühling, hat Jörg Widmann zu Hause in München getroffen und mit ihm über das Lied gesprochen.

AC: Widmann, der Gesangskomponist: Es fällt auf, dass Deine Titel oft auf Vokales anspielen – gerade bei Werken, in denen gar nicht gesungen wird. „Lied“ ist ein 25-minütiges Orchesterstück, das sich mit Schubert und ganz verschiedenen Arten des instrumentalen Singens auseinandersetzt. Bei „Messe“ verhält es sich ähnlich. Andererseits beschränkt sich Dein eigentliches Liedschaffen im Grunde auf lediglich zwei Zyklen.

JW: Tatsächlich habe ich hier in diesem Haus in München, in dem wir gerade sprechen, von 1998 an in loser Folge immer wieder Lieder komponiert. Nur zu meiner eigenen Freude war das, als wäre es eine Art Tagebuch. An die zehn Lieder müssen bis 2016 auf diese Weise entstanden sein. Keines von ihnen ist bislang veröffentlicht, ich müsste sie mal sichten. Die Textvorlagen stammen von Dichtern wie Novalis, Eichendorff oder Rilke. Lyrik war mir ja immer sehr nah. Schon früh habe ich mich von dichterischen Texten inspirieren lassen. Von Baudelaires „Fleurs du Mal“ etwa, die meinem ersten großen Werk für Soloklavier 1996/97 den Titel gegeben haben, auch von dem Gedicht „Die Klagen eines Ikarus“, das sich in meiner „Ikarischen Klage“ für zehn Streicher von 1999 niedergeschlagen hat. Die Sprache der späten Rilke-Lyrik war meine große Jugendliebe, und ich hätte immer gerne die „Sonette an Orpheus“ vertont. Zurückgehalten hat mich letztlich die Einsicht, dass Rilkes Worte selbst so intensiv klingen – weil sie im Grunde bereits Musik sind.

AC: Die Genres vermischen sich, die Bedeutungsebenen durchdringen einander. Dennoch die Frage: Welche Bedeutung hat die Gattung Lied überhaupt für Deine Arbeit als Komponist?

JW: Aribert Reimann oder meine Lehrer Hans Werner Henze und Wolfgang Rihm vertonen literarische Texte, sie setzen Verse in Musik – weitgehend linear, dem Verlauf der Worte folgend. Dergleichen gibt es bei mir durchaus auch noch. Daneben tauchen aber häufig vokale Gestalten auf, die dem Lied nahekommen, ohne dass konkrete Vokabeln zu erkennen wären. „Sphinxensprüche und Rätselkanons“ von 2005 zum Beispiel ist ein Stück in der Besetzung von Schuberts „Hirt auf dem Felsen“ – Sopran, Klarinette und Klavier –, bei dem fast ausschließlich Vokalisen und phonetisches Material verwendet werden. Die einzigen erkennbaren Worte sind ,Alpha‘ und ,Omega‘. Und noch in „Labyrinth V“ für Solosopran, das ich 2021 für Sarah Aristidou geschrieben habe, ist es die sirenenhaft in Vokalisen geführte Frauenstimme selbst, deren erotische Aufgeladenheit mich fasziniert. In meiner Oper „Babylon“ wiederum finden sich viele liedhafte Situationen, auch im Oratorium „Arche“ ist das so. Das Lied, quasi als Folie, ist da immer wieder präsent.

AC: Gut sichtbar von Deinem Platz am Flügel aus lehnt hier das Portrait Robert Schumanns an der Wand. Schumanns lyrische Welt klingt besonders häufig in Deinen Werken an.

JW: Ja, es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass es von mir eigentlich kein Stück ohne Schumann-Bezug gibt. Ganz besonders von Schumann durchdrungen sind die „Elf Humoresken“ für Klavier aus dem Jahr 2007. Nicht nur dem Gesamttitel nach, sondern auch im Einzelnen verweisen sie vielfach auf dessen Welt. Klangliche, poetische und biographische Assoziationen spielen fortwährend ineinander. „Lied im Traume“, das sehr kurze zehnte Stück zum Beispiel, wiederholt immer wieder schneidend scharf den Ton „a“, der Schumann in seinen Gehörshalluzinationen so peinigte – und lässt darunter das Es-Dur-Thema der „Geistervariationen“, Schumanns allerletzter Komposition, anklingen.

AC: Dein erster großer und bislang umfangreichster Liederzyklus „Das heiße Herz“ entstand zwischen 2013 und 2015, drei Jahre später hast Du überdies eine Orchesterfassung vorgelegt. Wie kam es zu dieser außergewöhnlichen Zusammenstellung von acht Liedern zu Gedichten verschiedener Autoren?

JW: Auslöser war die eigentlich zufällige Entdeckung eines Bandes mit Gedichten von Klabund, mit bürgerlichem Namen Alfred Georg Hermann Henschke. Klabund ist ein Autor des frühen 20. Jahrhunderts, der auch in Deutschland immer nur punktuell rezipiert worden ist. Bei „Das heiße Herz“ handelt es sich um eine Sammlung von „Balladen, Mythen und Gedichten“, die Klabund 1922 veröffentlichte, und da ich insgesamt drei Texte von ihm vertont habe, lag die Wahl dieses Titels nahe. Klabund selbst war kein Kind von Traurigkeit, und in seinen Versen verbindet er auf besonders faszinierende Weise ironische Distanz mit tiefer Wahrheit, er schließt die flotte Berliner Schnauze mit tiefster romantischer Innigkeit kurz. Mein Zyklus „Das heiße Herz“ basiert auf einer Montage an sich selbstständiger Texte. Obwohl die Perspektiven vielfach gebrochen sind, wird im Grunde doch eine Geschichte erzählt, eine Geschichte von der Liebe zwischen Glück und Erfüllung, Desillusionierung und Tod. Sogar ein Doppelmord kommt vor. Auch bei der Auswahl der anderen Gedichte – sie stammen aus „Des Knaben Wunderhorn“, von Peter Härtling, Heinrich Heine, Achim von Arnim und Clemens Brentano – habe ich nach der Nähe zwischen volkspoetischer Schlichtheit und höchster Kunst gesucht. Brentano, dessen „Einsam will ich untergehen“ den ausgedehnten Abschluss des Zyklus bildet, exemplifiziert diese Doppelgesichtigkeit auf für mich einzigartige Weise. Brentanos Sprache zählt für mich überhaupt zum Schönsten, was im Deutschen geschrieben wurde.

AC: Die Anforderungen an die Kondition des Sängers sind immens...

JW: Ja, die Brentano-Vertonung des Schlussgesangs ist eine rund 13-minütige Fantasie. Im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit, denn der Sänger kann am Ende förmlich nicht mehr, er muss wirklich in die Erschöpfung hineinsingen. Ich finde das in seiner Grenzerfahrung sehr berührend...

AC: Deine „Sieben Abgesänge auf eine tote Linde“ für Sopran, Klarinette, Violine und Klavier sind schon 1997 entstanden, als Du gerade mal 24 Jahre alt warst.

JW: Christoph Poppen erzählte mir damals, wie während eines Kirchenkonzerts in Münsing in der Nähe des Starnberger Sees ein außergewöhnlich starkes Gewitter tobte, bei dem der Blitz in die altehrwürdige Dorflinde einschlug. Die Lyrikerin Diane Kempff, Tochter von Wilhelm Kempff, die dort lebte, war sehr erschüttert über die Zerstörung der Linde und schrieb daraufhin einige Gedichte. Christoph Poppen hatte die Idee, ein Jahr nach dem
Vorfall in der gleichen Kirche eine Art Requiem auf den toten Baumkoloss in der Kirche erklingen zu lassen und stellte den Kontakt zu mir her. Ich hatte dann eine sehr intensive, ganz wunderbare Begegnung mit Diana Kempff. Und überraschenderweise stellte sie mir vollkommen frei, nach Belieben mit den Texten umzugehen. Offenbar war sie sich von vornherein im Klaren darüber, dass im Medium der Musik etwas Drittes, ganz Anderes entstehen würde. Diese Lyrik ist Ausdruck einer offenkundig zutiefst gequälten Seele, sie kommt uns oft wunderlich und versponnen entgegen. Einer zerbrechlichen Zartheit steht eine bisweilen fast brutale Härte unversöhnlich gegenüber. Das Schubert’sche „Fremd bin ich eingezogen“ gilt für Diana Kempff in besonderer Weise, es äußert sich in ihren Versen in einer Nähe zu allem Fremden, Abseitigen und auch Übernatürlichen. Dieses geisterhaft-spukige Element habe ich durch meine Textauswahl und mit musikalischen Mitteln zu verdeutlichen versucht.