György Ligeti zählt zu den originellsten und zugleich technisch raffiniertesten Komponisten des 20. Jahrhunderts. In seinem Werk verband er konstruktive Strenge mit assoziativer Freiheit.
Kurz vor seinem 100. Geburtstag widmete das Musikfestival 2023 dem Komponisten einen zweitägigen Festivalschwerpunkt, bei dem herausragende Interpret*innen wichtige Aspekte seines Werks beleuchteten.
Aufgewachsen als ungarischer Jude am Rande der Karpaten in Transsylvanien, das seit 1920 zu Rumänien gehörte, war Ligeti von klein auf umgeben von fremden, ihm unverständlichen Sprachlauten. Er hörte die aufwühlenden Gesänge der Klageweiber, und er staunte über den magischen Ton des Alphorns in den Bergen mit seinen von der temperierten Intonation abweichenden Naturtönen. All dies sollte später an entscheidender Stelle in seine Musik einfließen – etwa im Violinkonzert, das im Musikfestival 2023 mit Barnabás Kelemen als Solist zu hören war.
Dem postmodernen Dilemma zwischen Fortschrittsglauben und Rückkehr zur Vergangenheit entzog sich der Komponist zu Beginn der achtziger Jahre. Er ließ stattdessen noch mehr an Fremdem und Buntem zu: Die hypnotischen visuellen Darstellungen der fraktalen Geometrie, die rhythmischen Finessen der Ars subtilior um 1400, die Pulsationsmuster der Musik Zentralafrikas oder die verrückte Überlagerung verschiedener Geschwindigkeiten in den Studien für Selbstspielklavier des Amerikaners Conlon Nancarrow (1912–1997). Der „exzessiv Neugierige“, als den sich Ligeti selbst einmal beschrieb, nahm die Impulse einer wahrhaft globalisierten Kultur auf.
Während er sich von den Reinheitsgeboten der Avantgarde löste, tastete er die von ihm gewählten Modelle vor allem auf ihr erneuerndes Potenzial ab. Andererseits verließ sich Ligeti selbst da, wo er mit beinahe wissenschaftlicher Methodik vorging, auf keinerlei „Formel“, sondern folgte in letzter Instanz der künstlerischen Intuition. Ligeti schrieb komplex, aber niemals hermetisch: Seine Werke klingen virtuos und unmittelbar kommunikativ, sie gebärden sich spielerisch und humorvoll – und auch einer sehr poetisch gefassten Schwermut geben sie immer wieder Raum. Einst Opfer zweier totalitärer Systeme – zwei seiner Familienangehörigen starben im Konzentrationslager –, stand Ligeti, der 1956 aus Ungarn geflohen und über Wien nach Köln gelangt war, den doktrinären Tendenzen der Neuen Musik schon in den sechziger Jahren kritisch gegenüber. „Atmosphères“, das Orchesterstück, das 1961 in Donaueschingen uraufgeführt wurde und sofort wiederholt werden musste, machte den Enddreißiger schlagartig berühmt. Der blendend helle Pianissimo-Cluster, mit dem „Atmosphères“ beginnt, klingt so synthetisch, so fremd und allumfassend, als käme er tatsächlich aus einer anderen Galaxie. Stanley Kubrick hat das präzise erspürt, als er das Stück (ohne Einwilligung des Komponisten) Ende der sechziger Jahre in seinem Kultfilm „2001: A Space Odyssey“ verwendete. Ganz ähnliche Verfahren wendete Ligeti damals in seinem Orgelstück „Volumina“, das Organist Markus Uhl im Festival spielte, sowie in der Chorkomposition „Lux Aeterna“ an, das vom KlangForum Heidelberg aufgeführt wurde. Zusammen mit dem Zweiten Streichquartett aus dem Jahr 1969, das das Quatuor Diotima spielte, ergab sich also ein differenzierter Blick auf das beeindruckende Œuvre des Komponisten György Ligeti.