Große Einzelne bringen Menschen zusammen
Es ist ein paradoxes Phänomen, dass Vereinzelung, Unangepasstheit und Widerspenstigkeit bedeutender Geister und visionärer Menschen große und verbindende Ideen hervorbringen können. Dies lässt sich auch an einigen Komponisten in der Musikgeschichte beobachten.
Johann Sebastian Bach ist wohl die Urgestalt jenes Künstlers, der sich neben immensen lebenspraktischen Pflichten schon in frühen Jahren selbstgewählten Großprojekten zu widmen beginnt. In diesen behandelt er, ohne konkrete wirtschaftliche Interessen, ganz bestimmte kompositorische Fragestellungen. Was als gleichsam private Forschungsarbeit beginnt, zieht indes schnell größere Kreise: Die Folgen der Bach’schen „Demonstrationszyklen“ für die Musikgeschichte, aber auch für Tausende von Hörerinnen und Hörer im Laufe der Jahrhunderte, sind kaum zu überschätzen. Gleich drei solcher Sammelwerke waren beim Musikfestival 2023 zu hören. Den ersten Teil des „Wohltemperierten Klaviers“ übernahm Pianist Fabian Müller in seinem Rezital. Die Sammlung aus Präludien und Fugen in allen Dur- und Molltonarten ist eine einzigartige Verbindung aus gelehrsamen und fein typisierten Sätzen. Aus Bachs späteren Jahren stammen auch die berühmten „Goldberg-Variationen“, die im Festival in einer reizvollen Bearbeitung für Streicher mit dem Quatuor Ardeo zu hören waren. Sowie die „Kunst der Fuge“, Bachs finales Statement zur Kunst des barocken Kontrapunkts, das sich das Cuarteto Casals vorgenommen hatte und in einer der jüngsten und zugleich spannendsten Konzertortentdeckungen in Heidelberg aufführte: in der Pfarrkirche St. Paul auf dem Boxberg, die durch die strenge Formensprache des Brutalismus und einen amphitheatralischen Kirchenraum überrascht.
Ausgesprochen gegensätzliche Künstlertypen verkörpern die beiden Russen Sergei Rachmaninow und Dmitri Schostakowitsch, von denen jeweils bedeutende Werke erklangen. Was sie verbindet, ist die Erfahrung von tiefer Verlassenheit, Angst und Isolation und deren Gestaltung in Klängen. Interpreten höchsten Kalibers nahmen sich der beiden Komponisten an: Zum einen Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen zusammen mit Sopranistin Asmik Grigorian und Bariton Matthias Goerne in Schostakowitschs 14. “gesungener” Sinfonie, zum anderen der russische Pianist Nikolai Lugansky mit einem reinen Rachmaninow-Abend in seinem 150. Geburtsjahr.
In allerbesten Händen war auch das vielfältige Werk György Ligetis, einem der originellsten und zugleich technisch raffiniertesten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Mit den „Ligeti 100“-Konzerten widmete das Festival ihm einen eigenen Schwerpunkt. Weltberühmt beim breiteren Publikum wurde Ligeti 1968, als der Regisseur Stanley Kubrick dessen suggestive, wie gasförmig im Raum schwebende Clusterklänge in seinem Film „2001: Odyssee im Weltraum“ verwandte.